Das Buch Huxleys “Ends and Means”, das hier vorgestellt werden soll, hat den Untertitel “Eine Untersuchung über das Wesen der Ideale und die Methoden zu ihrer Verwirklichung”. Und genau darum geht es schon im ersten Kapitel “Ziele, Wege und heutige Ausgangspunkte”.
Huxleys Werk erschien 1937, also in der Zwischenkriegszeit, als sich die kommende Katastrophe schon abzeichnete. Aber seine Überlegungen sind genauso aktuell wie vor 87 Jahren:
Über das ideale Ziel menschlicher Bemühungen besteht in unserer Zivilisation seit fast dreißig Jahrhunderten eine sehr allgemeine Übereinstimmung. Von Jesaja bis Karl Marx haben die Propheten mit einer Stimme gesprochen. In dem Goldenen Zeitalter, auf das sie sich freuen, wird es Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Nächstenliebe geben. “Kein Volk wird mehr das Schwert gegen das andere erheben”; “die freie Entwicklung eines jeden wird zur freien Entwicklung aller führen”; “die Welt wird voll sein von der Erkenntnis des Herrn, wie das Wasser das Meer bedeckt.”
In Bezug auf das Ziel, ich wiederhole es, besteht und bestand lange Zeit eine sehr allgemeine Übereinstimmung. Nicht so in Bezug auf die Wege, die zu diesem Ziel führen. Hier sind Einstimmigkeit und Gewissheit einer völligen Verwirrung gewichen, einem Aufeinanderprallen widersprüchlicher Meinungen, die dogmatisch vertreten und mit der Gewalt des Fanatismus umgesetzt werden.
Es gibt einige, die glauben — und dieser Glaube ist derzeit sehr verbreitet -, dass der Königsweg zu einer besseren Welt der Weg der Wirtschaftsreform ist. Für einige ist die Abkürzung zur Utopie die militärische Eroberung und die Hegemonie einer bestimmten Nation; für andere ist es die bewaffnete Revolution und die Diktatur einer bestimmten Klasse. Sie alle denken in erster Linie an soziale Maschinerie und groß angelegte Organisation.
Es gibt jedoch auch andere, die das Problem vom anderen Ende her angehen und glauben, dass wünschenswerte soziale Veränderungen am wirksamsten durch die Veränderung der Individuen, die die Gesellschaft bilden, herbeigeführt werden können. Von denjenigen, die so denken, setzen einige auf die Erziehung, andere auf die Psychoanalyse, wieder andere auf den angewandten Behaviorismus. Andere hingegen glauben, dass ohne übernatürliche Hilfe kein wünschenswerter “Gesinnungswandel” herbeigeführt werden kann. Sie sagen, es müsse eine Rückkehr zur Religion geben. (Leider können sie sich nicht darauf einigen, zu welcher Religion die Rückkehr erfolgen soll.)
An dieser Stelle ist es notwendig, etwas über das ideale Individuum zu sagen, in das die Umwandler des Herzens sich und andere verwandeln wollen. Jedes Zeitalter und jede Klasse hat ihr Ideal gehabt. Die herrschenden Klassen in Griechenland idealisierten den großmütigen Mann, eine Art Gelehrten und Gentleman. Die Kshatriyas im frühen Indien und die Feudalherren im mittelalterlichen Europa vertraten das Ideal des ritterlichen Mannes.
Der “honnête homme” erscheint als das Ideal der Gentlemen des siebzehnten Jahrhunderts, der “philosophe” als das Ideal ihrer Nachkommen im achtzehnten Jahrhundert. Das neunzehnte Jahrhundert idealisiert den ehrbaren Mann. Das zwanzigste Jahrhundert war bereits Zeuge des Aufstiegs und des Niedergangs des liberalen Menschen und des Auftauchens des schafähnlichen sozialen Menschen und des gottähnlichen Führers. In der Zwischenzeit haben die Armen und Unterdrückten immer nostalgisch von einem Menschen geträumt, der im Idealfall wohlgenährt, frei, glücklich und nicht unterdrückt ist.
Für welches dieser verwirrenden Vielzahl von Idealen sollen wir uns entscheiden? Die Antwort lautet, dass wir keines wählen sollen. Denn es ist klar, dass jedes dieser widersprüchlichen Ideale das Ergebnis bestimmter sozialer Umstände ist. Bis zu einem gewissen Grad gilt dies natürlich für jeden Gedanken und jedes Streben, das jemals formuliert wurde. Einige Gedanken und Bestrebungen sind jedoch offenkundig weniger abhängig von bestimmten sozialen Umständen als andere.
Und hier zeigt sich eine bedeutsame Tatsache: Alle Ideale menschlichen Verhaltens, die von denjenigen formuliert wurden, die sich am erfolgreichsten von den Vorurteilen ihrer Zeit und ihres Ortes befreit haben, sind sich auf einzigartige Weise ähnlich. Die Befreiung von den vorherrschenden Konventionen des Denkens, Fühlens und Verhaltens wird am wirkungsvollsten durch die Ausübung uneigennütziger Tugenden und durch direkte Einsicht in die wahre Natur der letzten Wirklichkeit erreicht. (Eine solche Einsicht ist ein Geschenk, das dem Individuum innewohnt; aber obwohl sie innewohnt, kann sie sich nicht vollständig manifestieren, es sei denn, bestimmte Bedingungen sind erfüllt. Die wichtigste Voraussetzung für die Einsicht ist eben die Ausübung der uneigennützigen Tugenden.)
Bis zu einem gewissen Grad ist auch der kritische Intellekt eine befreiende Kraft. Aber die Art und Weise, wie der Intellekt eingesetzt wird, hängt vom Willen ab. Wo der Wille nicht uneigennützig ist, neigt der Intellekt dazu, (außerhalb der nicht-menschlichen Bereiche der Technik, der Wissenschaft oder der reinen Mathematik) lediglich als Instrument zur Rationalisierung von Leidenschaften und Vorurteilen, zur Rechtfertigung von Eigeninteressen eingesetzt zu werden. Deshalb ist es nur wenigen, selbst den scharfsinningsten Philosophen, gelungen, sich vollständig aus dem engen Gefängnis ihrer Zeit und ihres Landes zu befreien. Es ist in der Tat selten, dass sie so viel Freiheit erreichen wie die Mystiker und die Religionsstifter. Die nahezu freiesten Menschen waren immer diejenigen, die Tugend mit Einsicht verbanden.
Unter diesen freiesten aller Menschen hat es in den letzten achtzig oder neunzig Generationen eine weitgehende Übereinstimmung in Bezug auf das ideale Individuum gegeben. Die Versklavten haben mal dieses, mal jenes Modell eines Menschen bewundert; aber zu allen Zeiten und an allen Orten haben die Freien nur mit einer Stimme gesprochen.
Es ist schwierig, ein einziges Wort zu finden, das den idealen Menschen der freien Philosophen und der Religionsstifter angemessen beschreibt. “Ungebunden” ist vielleicht das beste. Der ideale Mensch ist der ungebundene Mensch. Ungebunden an seine körperlichen Empfindungen und Begierden. Ungebunden an sein Verlangen nach Macht und Besitz. Ungebunden an die Objekte dieser verschiedenen Begierden. Ungebunden an seine Wut und seinen Hass; ungebunden an seine exklusiven Lieben. Ungebunden an Reichtum, Ruhm, soziale Stellung. Ungebunden sogar an Wissenschaft, Kunst, Spekulation, Philanthropie. Ja, selbst an diese nicht gebunden. (…)
Die Ungebundenheit an das eigene Ich und an das, was man “die Dinge dieser Welt” nennt, wurde in den Lehren der Philosophen und der Religionsstifter immer mit der Bindung an eine letzte Wirklichkeit verbunden, die größer und bedeutender ist als das eigene Ich. Größer und bedeutender als selbst die besten Dinge, die diese Welt zu bieten hat.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 27. Januar
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