1936 reifte in den Huxleys der Entschluss, den Vereinigten Staaten im nächsten Jahr einen längeren Besuch abzustatten, ein gutes Jahrzehnt nach ihrer ersten Bekanntschaft mit dem “american way of life” im Anschluss an ihre Indienreise. Auslöser war die Idee, ihren Sohn Matthews im Hinblick auf ein mögliches Medizinstudium an einer amerikanischen Universität mit ihren pre-medical schools anzumelden. Dazu kam, dass sich Aldous sehr für das 1935 von Joseph B. Rhine gegründete weltweit erste parapsychologische Laboratorium an der Duke University in Durham, North Carolina interessierte und es besuchen wollte.
Geplant war eine mehrmonatige Reise, aber unbewusst rechneten sie offensichtlich mit einem endgültigen Abschied von Europa, denn der Mietvertrag für ihre Wohnung in London wurde aufgelöst und die geliebte “Villa Huley” in Sanary zum Verkauf ausgeschrieben. Am 7. Mai brach die Familie zusammen mit ihrem Freund Gerald Heard auf dem Ozeandampfer “Normandie” Richtung New York auf.
Aber nicht allein in biografischer Hinsicht stellte die Jahre 1936 und 1937 für Aldous Huxley einen Umbruch dar. Die persönliche Krise, die in den Konversationsroman “Geblendet in Gaza” gemündet hatte, und der Aufstieg der Faschisten in Europa führten zu einer entscheidenden und markanten Entwicklung in Huxleys Denken, die sich durch den folgenden Krieg und die unselige Nachkriegsordnung noch weiter fortsetzen sollte. Allerdings war diese Entwicklung nicht, wie üblicherweise überspitzt auf den Punkt gebracht, ein drastischer Wandel vom Zyniker und Satiriker zum Mystiker und Heiligen. (…)
Seine Entwicklung vom jugendlichen Ästheten über den Anhänger der von Lawrence und Blake inspirierten life-worship (Lebensanbetung) zum politischen Aktivisten hatte dem analytischen Skeptiker und satirischen Kritiker einen pragmatisch orientierten Sozialkritiker und engagierten Philosophen an die Seite gestellt, der in der nun begonnenen Phase eine immer grössere Rolle zu spielen begann.
In New York wurde Aldous wieder von Interviewanfragen überhäuft. Sein Ruhm in den Vereinigten Staaaten war inzwischen noch gestiegen. Doch schon bald ging es quer durch die Südstaaten über 6000 Meilen bis nach San Cristobal / New Mexico, wo sie Frieda Lawrence, die Frau seines verstorbenen Schriftstellerfreundes, auf ihrer Ranch erwartete. Auf ihrer Reise besuchten sie unter anderem das experimentelle Black Mountain College in North Carolina, in dem John Deweys Vorstellung von ganzheitlicher, interdisziplinärer und kunstbasierter Bildung umgesetzte wurde und an dem berühmte Persönlichkeiten wie Lyonel Feininger, Albert Einstein, John Cage oder Allen Ginsberg unterrichteten. Es folgte der Besuch des Labors von Rhine, der u.a. die hellseherischen Fähigkeiten des berühmten irischen Mediums Eileen Garrett getestet hatte. Sie sollte im Leben Huxleys noch eine wichtige Rolle spielen.
Frieda Lawrence überredete die Huxleys, den Sommer auf ihrer Ranch zu verbringen. Das erlaubte Aldous, sein 1936 begonnenes Buch “Ends and Means”, in der deutschen Übersetzung “Ziele und Wege”, abzuschliessen. Es war als philosophische Grundlegung der Friedensbewegung gedacht. Um allgemein gewünschte Ziele wie Frieden, Gerechtigkeit usw. zu erreichen, sei es notwendig, die Mittel zu untersuchen, die dazu beitragen können, diese Ziele zu erreichen. Das Buch war eine Kampfansage gegen einen “überzogenen Vereinfachungswahn”, der alles einer prinzipiellen Ursache zuschreibe und zum Beheben von Problemen entsprechend eindimensionale Lösungen vorschlage. (…)
Ein Ideal, das gleich zu Beginn postuliert wird, ist das des “unabhängigen Menschen (non-attached man).Mit “unabhängig” ist dabei nicht “gleichgültig” oder “unbeteiligt” gemeint, sondern die Unabhängigkeit von “körperlichen Empfindungen und Begierden”, wie sie von vielen ethischen Traditionen gefordert wird: die Freiheit vom Diktat des weltverhafteten Egoismus und damit die Fähigkeit, an der Welt teilzuhaben, ohne ihren materialistischen und emotionalen Zwängen zu verfallen. Diese Nichtverhaftetheit befreit das Individuum auch dazu, alle Tugenden zu entwickeln und zu pflegen, darunter die für Huxley wichtigste: Nächstenliebe bzw. Achtung und Achtsamkeit (charity). (…)
Einen weiteren Grundsatz betonte Huxley im Folgenden immer wieder: Man muss die Probleme von allen Seiten zugleich angehen. Komplexe, das heisst multidimensionale Probleme erfordern multidimensionale Lösungen. Kein anderer Philosoph oder Sozialreformer hat diese Erkentnis der Multidimensionalität von Problemen und der gegenseitigen Abhängigkeit von scheinbar trennbaren Sachverhalten so konsequent verfolgt wie Huxley.
(sämtliche Auszüge aus Rasch / Wagner, Aldous Huxley, wbg 2019)
In der nächsten Folge werfen wir einen Blick in sein Buch, und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 20. Januar.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz / Christentum und Gnosis / Helvetia — quo vadis? / Aldous Huxley / Dle WW und die Katholische Kirche /