Nach Abschluss eines langfristigen Mietvertrags für eine exklusiv gelegene Wohnung in London ganz in der Nähe des Piccadilly Circus, das den Huxleys ein regelmässiges Pendeln zwischen Sanary und England erlauben würde, genossen sie das Wiedersehen mit alten Freunden und Bekannten. Doch Aldous kämpfte mit Problemen:
Er litt an bislang ungewohnter Schlaflosigkeit, einem Symptom innerer Unruhe, das auf eine grössere psychische Krise hindeutete. Zunächst wählte er die konventionelle Herangehensweise und nahm milde Schlaftabletten sowie das Beruhigungsmittel Sedobrol. Gerald Heard empfahl ihm, aus seinem theoretischen Interesse für Yoga praktischen Nutzen zu ziehen und zu versuchen, durch bewusste Atemübungen und gedankliche Konzentration das innere Gleichgewicht wiederzufinden. Huxley liess sich darauf ein, spürte leichte Erfolge, merkte aber auch, wie enorm schwierig und zeitaufwendig dieser Weg war.
Anfangs 1935 kam die Schlaflosigkeit mit voller Wucht zurück und er befürchtete eine Schreibblockade mit entsprechenden unangenehmen finanziellen Folgen. Diesmal setzte er zusätzlich auf Wochenenden auf dem Lande, Massagen, Einnahme von Vitaminen und sogar Hypnose. Als Gerald Heard ihn für eine Vorlesung an der Dartington School gewinnen konnte, wurde langsam ein “neuer” Huxley sichtbar:
Huxley sprach über die Vorherrschaft des wissenschaftlichen Denkens und die dennoch fortbestehenden religiösen Sehnsüchte des Menschen. Er beklagte die Unzulänglichkeiten und Gefahren der modernen Ersatzreligionen, insbesondere des Nationalismus. Ziel müsse sein, eine “neue”, umfassende Religion zu finden, die auch die Wissenschaften akzeptiere, um sie anschliessend zu transzendieren. Dass es sich dabei für ihn um keine andere als die mystische Einheitsreligion handeln konnte, liess er noch unerwähnt.
Zwar enthob ihn eine Erneuerung des Vertrags bei Chatto&Windus seiner finanziellen Sorgen und die Huxleys reisten auf Anraten seines Arztes in die französischen Alpen.
Die Schlaflosigkeit konnte in der Umgebung von Grenoble zwar in Schach gehalten werden, war aber keineswegs überwunden, als Huxley für den Frühling und Sommer 1935 nach Sanary zurückkehrte. Der innere Kampf um eine religiöse Glaubenshaltung ging in seine nächste Phase. Zusätzlich zu den bisherigen Beruhigungsmassnahmen begann Aldous jetzt mit gezielter körperlicher Ertüchtigung, die in intensiver Gartenarbeit ihren Ausdruck fand. Ablenkung bot ihm ebenfalls wieder die Malerei. Auch der Roman (Geblendet in Gaza) schritt deutlich voran .… Aber er wusste, dass ein Abschluss erst dann in greifbare Nähe rücken würde, wenn er mit sich selbst ins Reine gekommen war. Geblendet in Gaza — stark autobiographisch geprägt wie die meisten seiner längeren Texte — musste zu einem Entwicklungsroman werden, und die Hauptfigur, Anthony Beavis, musste eine optimistische Weltanschauung gewnnen, die Huxleys frühere Romanfiguren fast einhellig abgelehnt hatten.
Etwas später lernte Huxley in London den australischen Therapeuten Frederick Matthias Alexander kennen, den Begründer der bis heute populären Alexander-Technik:
Huxley war von dem Ansatz des Therapeuten so angetan, dass er in den kommenden Wochen, ja Monaten, fast täglich Unterricht bei ihm nahm. Alexander vertrat die Überzeugung, dass die Ausbildung von unbewussten alltäglichen Verhaltensmustern, von Gewohnheiten, zu körperlicher Fehlhaltung führt, die sich durch Schmerzen, Verspannungen oder andere Funktionsbeeinträchtigungen äussern. Sein Ziel bestand darin, dass seine Schüler ihre Körperwahrnehmungen verbesserten, indem sie sich ihrer Gewohnheiten bewusst wurden und sie fortan zu vermeiden versuchten. Auf diese Weise, so argumentierte er, könne der Geist starken positiven Einfluss auf das Funktionieren des Körper nehmen …, und ging im Umkehrschluss davon aus, dass ein gut funktionierender Körper sich wohltuend auf das Denken und die Psyche des Einzelnen auswirke. (…)
So widmete sich (Huxley) unter Alexanders Anleitung ausführlich dem aufmerksamen Stehen, Gehen, Hinsetzen, Aufstehen, Zähneputzen oder Schuhebinden. Er empfand die Therapie als Offenbarung. Bis an sein Lebensende sollte er ein Verfechter der Alexander-Technik bleiben.
Den entscheidenen Impuls für die Überwindung der inneren Krise gab ihm schliesslich der Pazifismus, der ihn mehr und mehr in seinen Bann zog und immer aktiver werden liess. Dazu mehr in der nächsten Folge
am Samstag, den 16. Dezember
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