Elisabeth Tooker war eine amerikanische Anthropologin, die sich mit verschiedenen Publikationen zu den Irokesen und benachbarter indigener Völker einen Namen gemacht hatte. Sie griff 1988 die vom amerikanischen Kongress anerkannte Einflussthese mit einem Artikel in der renommierten Zeitschrift “Ethnohistory” frontal an:
(Sie) behauptete, dass die Befürworter der These glauben, die Gründer hätten die Verfassung vom Irokesenbund “abgeschrieben”. Dies sei offensichtlich nicht der Fall, denn die US-Regierung beruhe auf Mehrheitsentscheidungen, nicht auf einstimmigem Konsens, und die US-Senatoren würden nicht von ihren Clanmüttern ernannt. Tooker schrieb, dass die Gründer der Vereinigten Staaten kaum etwas über die politischen Systeme der Irokesen und anderer Ureinwohner wussten.
(sämtliche Auszüge aus Bruce E. Johansen, Debating Democracy)
Abgesehen davon, dass die Befürworter der These nicht im Traum daran dachten zu behaupten, die Gründerväter hätten einfach “abgeschrieben”, ist ein anderer Aspekt ihrer Behauptung interessant. Tooker verwendete für ihre Analyse nur das gedruckte wissenschaftliche Material, konkret: anthropologische Aufzeichnungen ab den 1840er Jahren. So hätten damals Anthropologen wie Henry Lewis Morgan als erste Nicht-Eingeborene entdeckt, dass der Grosse Rat der Irokesen aus fünfzig Sitzen bestand.
Diese Lesart der Geschichte ignoriert die Beobachtungen, die viele Gründer der Vereinigten Staaten mehrere Jahrzehnte zuvor gemacht hatten. Erstaunlicherweise schien Tooker die zahlreichen (wenn auch in der Regel nicht “systematischen”) Beobachtungen von Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, Thomas Paine, John Adams und anderen, die während der Gründung der Vereinigten Staaten aufgezeichnet wurden, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Adams beschrieb die “fünfzig Familien” der Irokesen in seiner Verteidigung der Verfassungen der Vereinigten Staaten, die von den Delegierten des Verfassungskonvents verwendet wurde, recht ausführlich (…)
Tooker war skeptisch, dass die Gründer viel über den Bund der Irokesen wussten, und versäumte es dann, anzuerkennen, dass aus Benjamin Franklins Papieren eindeutig hervorgeht, dass er weniger als neun Monate vor der Erstellung des Albany Plan of Union an einer Kondolenzzeremonie der Irokesen teilnahm. (…)
Sie versäumte es auch, auf die etablierten Forschungen von Gelehrten einzugehen, die zwei Generationen früher tätig waren, wie Julian P. Boyd von der Princeton University (Herausgeber von Franklins Indianerverträgen und Thomas Jeffersons Papieren). Boyd behauptete 1942, dass Franklin 1754 “einen Plan für die Vereinigung der Kolonien vorschlug, und er fand sein Material in der großen Konföderation der Irokesen”. Tooker ignorierte auch eine Aussage von Richard K. Matthews in “The Radical Politics of Thomas Jefferson,” wonach für Jefferson die “amerikanischen Indianer . . das empirische Modell für seine politische Vision lieferten”.
Ein anderer Anthropologe, Michael Newman, spottete über die Idee, dass die Irokesen damals “Madisons Hand bei der Abfassung der Verfassung geführt haben” — was weder Grinde noch Johansen behaupteten — und meinte, der “Mythos” über den Einfluss der Indianer auf die Verfassung sei nicht nur dumm, sondern sogar zerstörerisch.
Johansen konterte mit Recht: Für Tooker, Newman und andere, die nicht durch ein gründliches Studium der historischen Aufzeichnungen vorbereitet worden waren, schien die Idee, dass die politischen Systeme der indianischen Gesellschaften zur Gestaltung der Demokratie in den Vereinigten Staaten beigetragen haben, neu, ja sogar unsinnig. Unsere vorherrschende eurozentrische Kultur bereitet uns gewiss nicht auf die Vorstellung vor, dass unser geistiges Erbe eine Kombination aus europäischen und indianischen Ideen ist und dass “Leben, Freiheit und Glück” auf indianischen Vorbildern beruht. Einige Leute mit Doktortitel in Geschichte und Anthropologie verwerfen diese Idee von vornherein, ohne auch nur einen Blick auf die historischen Aufzeichnungen geworfen zu haben. Obwohl solche Leute es besser wissen sollten, als die Aufzeichnungen vorzuverurteilen oder sich eine Meinung zu bilden, bevor sie die Beweise geprüft haben, reagieren sie nur auf das Wahrnehmungsgefängnis, das ihre Kultur um sie herum errichtet hat. (…)
Wie Newman versuchte auch Tooker, die These zu diskreditieren, indem er die Debatte auf die direkten Auswirkungen der Irokesen auf die Verfassung als Dokument beschränkte und fast zwei Jahrhunderte ideologischer Debatten über Leben, Freiheit und Glück ignorierte, aus denen dieses und andere grundlegende Dokumente hervorgingen. Da beide mit einem beklagenswert unvollständigen Wissen über die Geschichte operierten, ignorierten sie die Notwendigkeit, eine größere kognitive Landkarte zu erkunden. (…) Tooker, Newman und andere Kritiker der Idee des Einflusses hatten die seltsame Angewohnheit, sich Fachwissen anzumaßen, das sie nicht besaßen. Wenn sie nichts über den Einfluss des irokesischen Systems auf die entstehenden Vereinigten Staaten wussten, wurden die Beweise ipso facto als nicht existent angenommen.
Newman erwähnte nicht, dass Franklins “Vereinige dich oder stirb” aus dem Rat des irokesischen Häuptlings Canassatego in Lancaster im Jahr 1744 stammte. Er erwähnte auch nicht, dass Franklin Canassategos Rat gedruckt hatte, seine Arbeit als Diplomat bei den Irokesen und die Beiträge der Irokesen zu seinem Albany-Plan von 1754.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Franklin die Irokesen kopiert hat. Thomas Paine bewunderte zwar das politische System der Irokesen sehr, räumte aber auch ein, dass es nicht kopiert werden könne, um Menschen europäischer Herkunft in Amerika zu regieren. Es konnte zwar nicht kopiert werden, aber das indianische Beispiel konnte selektiv genutzt werden, so wie die Gründer von Präzedenzfällen im europäischen Altertum Gebrauch machten. Jefferson schrieb sogar, dass das indianische Staatswesen ihn an das erinnerte, was seiner Meinung nach seine Vorfahren, die Kelten, vor dem europäischen Zeitalter der Monarchie praktiziert hatten.
Während Tooker und Newman also mit der “Strohmann-Taktik” arbeiteten (Man übertreibt eine Aussage des Gegners massiv oder verzeichnet sie so stark, dass man sie anschliessend als absurd zurückweisen kann) und ihre Augen vor geschichtlichen Quellen ausserhalb ihrer “anthropologischen Gärtchens” verschlossen, fuhren andere Anthropologen stärkere Geschütze auf, um die Einfluss-These zu pulverisieren.
Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Donnerstag, den 16. März
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