“Die Gottesfrage wird heute kontrovers behandelt. Einerseits scheint sie durch die Geistesgeschichte der letzten zweihundert Jahre erledigt zu sein, andererseits wurden Pro und Contra Gottes angesichts der Umbrüche in der globalisierten Welt neu verhandelt”. So beginnt das Kapitel “Gott” in “Simone Weil. Theologische Splitter” des Theologen und Leiter des Ökumenischen Instituts Luzern, Wolfgang W. Müller.
Tatsächlich ist der Begriff “Gott” heute zu einer Worthülse geworden, in die jede/r seine/ihre eigene Vorstellung hineinprojiziert. Zwischen “Gott ist tot” Friedrich Nietzsches bis zu “Gott ist das alles durchdringende Bewusstsein in der Schöpfung” des indischen theoretischen Quantenphysikers Amit Goswami liegt eine unauslotbare Bandbreite von möglichen philosophischen und religiösen Gotteskonzepten.
Hier also einfach der unausgegorene Versuch, wenigstens den Überlegungen Simone Weils zur Frage nach Gott etwas nachzuspüren.
In einer autobiografischen Notiz schrieb sie: “Ich kann sagen, dass ich mein ganzes Leben lang niemals, in keinem Augenblick, Gott gesucht habe. Hierin liegt vielleicht auch der, gewiss allzu subjektive Grund, warum dies ein Ausdruck ist, den ich nicht liebe und der mir falsch erscheint. Seit meiner Jugend war ich der Ansicht, dass das Gottesproblem ein Problem ist, dessen Voraussetzungen uns hinieden fehlen, und dass die einzige sichere Methode, eine falsche Lösung zu vermeiden …, darin besteht, sie nicht zu stellen. Also stellte ich es nicht. Ich bejahte weder, noch verneinte ich.”
Nun könnte man dieser Haltung sofort das Etikett “Agnostizismus” überkleben. Aber das wäre ein Fehlschluss. Weil machte ja in ihrem Leben eine ganze Reihe von Erfahrungen, die ihr die Existenz einer “numinosen Ebene” unzweifelhaft erscheinen liessen. Und genau hier kommt ihre Aussage “L’attente est le fondement de la vie spirituelle” wieder ins Spiel: nämlich in Bezug auf die Frage nach Gott einfach die Haltung einer ehrfürchtigen und gelassenen Aufmerksamkeit einzunehmen, — jenseits aller dogmatischen oder nichtdogmatischen Gottesvorstellungen.
Es kann nur darum gehen, aus dieser inneren hellwachen Haltung ab und zu Einsichten und Erfahrungen zu gewinnen, denen man spontan das Attribut “göttlich” verleihen würde. Für Simone Weil war das zum Beispiel die Erfahrung der Schönheit: “Die Schönheit der Welt ist die Gottes selbst, wie die Schönheit des Körpers eines menschlichen Wesens die dieses Wesens selbst ist.”
Oder die Erfahrung der Liebe: “Wir müssen durch die unendliche Dichte von Raum und Zeit hindurch — aber Gott zuerst, um zu uns zu gelangen; denn er kommt als erster. Von allen Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen ist die Liebe die Grösste .…”
Oder die Erfahrung der Stille: “… Dass die Stille nicht Abwesenheit von Tönen, sondern eine unendlich wirklichere Sache ist und der Ort einer vollkommenen Harmonie als die schönste deren eine Tonkomposition fähig ist. Und dennoch gibt es Grade der Stille. Es gibt eine Stille in der Schönheit des Universums, die wie ein Lärm ist im Vergleich zu Stille Gottes.”
Die Begegnung mit dem Christentum liess in ihr natürlich auch die Frage nach der Personalität, resp. Apersonalität Gottes aufkommen. Jesus sprach von Gott als “Vater”, aber im apokryphen Thomas-Evangelium sagt er auch: “Ich bin das Licht, das über allen Dingen steht. Ich bin alles: aus mir ist alles hervorgegangen und zu mir gelangt. Spaltet das Holz, ich bin da. Hebt einen Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.” Widerspruch oder einfach Ausdruck einer höheren Wirklichkeit jenseits unserer Verstandeskategorien?
Hier lohnt es sich, eine wundervolle Stelle aus ihrem posthumen Buch “La connaissance surnaturelle” zu zitieren:
” Il aime, non pas comme j’aime, mais comme une émeraude est verte. Il est « J’aime ». … La perfection du Père dont le soleil et la pluie [esprit et eau] sont aveugles au crime et à la vertu. … L’adoration du soleil, c’est-à-dire de Dieu à travers le soleil, est une forme très belle et poignante de ce double amour. Si on se représente le soleil, tel qu’il est — lointain, parfaitement impartial dans la distribution de la lumière, absolument astreint à un cours déterminé — comme un être sentant et pensant, quelle meilleure représentation de Dieu peut-on trouver ? Quel meilleur modèle à imiter ?”
““Er liebt, nicht wie ich liebe, sondern wie ein Smaragd grün ist. Er ist “Ich liebe” … Die Vollkommenheit des Vaters, dessen Sonne und Regen [Geist und Wasser] blind sind für Verbrechen und Tugend… Die Anbetung der Sonne, d.h. Gottes Anbetung durch die Sonne, ist eine sehr schöne und ergreifende Form dieser doppelten Liebe. Wenn wir uns die Sonne so vorstellen, wie sie ist — fern, vollkommen unparteiisch in der Lichtverteilung, absolut an einen bestimmten Lauf gebunden — als fühlendes und denkendes Wesen, welch bessere Darstellung Gottes können wir dann finden? Welches Modell lässt sich besser nachahmen?”
Andernorts sagt sie einmal: “Gott allein hat das Recht zu sagen: “Ich bin”. “Ich bin” ist sein Name und nicht der Name irgendeines anderen Seienden. … Das “Ich bin” Gottes, das wahrhaft ist, unterscheidet sich unendlich vom illusorischen “Ich bin” des Menschen. Gott ist keine Person in dem Sinne, wie der Mensch glaubt, Person zu sein.”
Diese Bemerkung ist für mich deshalb faszinierend, weil sie damit — ohne sich dessen wahrscheinlich bewusst zu sein — eine der zentralsten Aussagen der jüdischen Mystik wiederholt: Als “Ehieh asher ehieh”, “Ich bin, der ich bin” oder “Ich werde sein, der ich sein werde” offenbarte sich “Gott” Moses, — und “Ehieh asher ehieh” steht am Anfang der Schöpfung, wie sie sich als Kether, “Die Krone”, im Lebensbaum der jüdischen Kabbalah manifestiert.
Im letzten Teil folgt noch ein kleiner Strauss von Aussagen Weils, die mich besonders berührt haben, — und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 28. November
Im Dezember werden wir dann den Spuren eines weiteren “Wanderers zwischen den Welten” folgen.
Claudia Roloff
Nov. 28, 2020
Hallo Herr Feurer,
ich hab nun grade mit großer Freude 2 Ihrer Artikel über Simone Weil gelesen und erfahre zwischen den Zeilen, dass es noch weitere davon gibt.
Falls Sie die alle beieinander haben, könnten Sie mir die bitte zuschicken?
Sonst klick ich mich geduldig durch.
Danke schon mal und
Liebe Grüße nach Birsfelden von
Claudia Roloff