Im Jahre 1979 veröffentlichte die Psychologin Alice Miller ein Buch mit dem Titel “Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst”, das sofort zu massiven Kontroversen führte. Miller versuchte darin nachzuweisen, dass wir alle aus der Kindheit mit grossen seelischen Verletzungen hervorgehen, die wir aber um des Überlebens willen verdrängen mussten. Dass diese These weit häufiger zutrifft als angenommen, haben Kinderpsychiater und Psychoanalytiker wie Eugen Drewermann oder Robert Moore inzwischen immer wieder festgestellt.
Lutz Müller schreibt in seinem Buch “Der Held — jeder ist dazu geboren” dazu:
“Wir sind von allem Anfang Wesen, die sich selbst in hohem Masse unbekannt sind und in eine fremde, unbekannte Welt hinein geboren werden. Sobald wir unseren ersten Atemzug gemacht haben, sind wir verlassen, einsam, unverstanden. Keine noch so gute Mutter und kein noch so einfühlsamer Partner werden sich in unsere Eigenart wirklich einfühlen können, keine noch so intensive Selbsterforschung wird uns uns selbst ganz verstehen lehren, kein Mensch wird uns in unseren grossen Ängsten, Demütigungen und Schmerzen wirklich trösten können und keiner kann für uns und mit uns jene Reifungsschritte tun, die auf unserem unbekannten Weg durch das Leben bis in den Tod notwendig sind. Überall müssen wir die Angst und das Risiko des Lebens alleine tragen und aushalten, auch wenn wir nur allzu gerne die Augen vor dieser Tatsache verschliessen möchten.”
Tönt das etwas gar dramatisch? Ich denke nicht: Die ganze Existenzialphilosophie von Sartre, Camus bis Kierkegaard baut auf dieser Erfahrung auf.
Was hilft uns, die Angst und das Risiko des Lebens zu tragen? Es ist “der Held oder die Heldin in uns”. Hören wir Lutz Müller noch etwas weiter zu:
“Wenn wir uns … überlegen, wie wir als ohnmächtige und gedemütigte Kinder psychisch überhaupt überleben können, … stossen wir auf die Heldengestalt. Wenn unsere Kraft der Selbstverwirklichung und unsere schöpferische Fantasie nicht völlig zerstört wurden, dann erzeugen sie in uns das tröstende Bild des Helden. Seine Stärke lässt uns unsere Ohnmacht vergessen und unsere Schmerzen tapfer ertragen, seine überlegene Grösse lässt uns unsere eigene wahre Würde und Grösse nicht vergessen, und sein Triumph macht uns Hoffnung, dass auch wir eines Tages über unser Leid triumphieren werden. …
Jeder, der sich auf die Reise des Helden macht, muss sich unvermeidlich mit dem ängstlichen, abhängigen, gedemütigten, einsamen und verlassenen Kind in sich liebevoll beschäftigen. Er muss seiner frühkindlichen Angst, Scham, Trauer, Ohnmacht, seiner Sehnsucht nach Schutz, Wärme, Geborgenheit und Liebe begegnen, damit seine Neugier, Wunschkraft, Offenheit und Lebenslust wieder erwachen können.
Die Begegnung mit unserem inneren Kind, das wir einmal waren und immer noch sind, ist nicht einfach für uns, weil wir dabei mit intensiven Gefühlen konfrontiert werden: mit heissen Sehnsüchten, mit grosser Angst, mit Schmerz und Trauer und vor allem mit Scham. Die Scham, die wir empfinden, wenn wir in Berühung mit den Gefühlen und Wünschen unseres inneren Kindes zu kommen, macht es uns oft schwer, unsere heroische Begeisterungsfähigkeit zu erwecken. Wir wehren uns verzweifelt, nichts von unseren vermeintlich “schwachen” Gefühlen zu zeigen. … Wir verbergen sie statt dessen hinter Ernsthaftigkeit, Verantwortlichkeit und Pflicht, hinter Neid, Verbitterung, Rachegefühlen, Agressionen, Vorwürfen, Streitereien, Rivalitäten.”
Da gibt es auf unserem persönlichen Heldenweg offensichtlich ein paar Stolpersteine, die wir nicht einfach mal so rasch beiseite schieben können. Und der grösste Stolperstein kommt erst noch:
“Viele Menschen, die ein unbefriedigtes Leben führen, verharren in einer vorwurfsvollen Einstellung den Eltern oder dem Schicksal gegenüber. Manche wiederholen jahre- und jahrzehntelang ihre ewig gleichen kindlichen Vorwürfe und Klagen, ohne dass sie beginnen, für ihr Leben selbst leidenschaftlich die Verantwortung zu übernehmen. Dafür ist es nämlich nötig, über die passiven Erwartungshaltungen und Enttäuschungen des Kindes hinauszugehen und zum “Göttlichen Kind” zu finden, jener Lebenskraft, die trotz aller Schwierigkeiten dem Leben ein grosses “Ja” entgegen ruft. Für dieses “Göttliche Kind” haben wir selbst eine fürsorgliche Elternschaft zu übernehmen.”
Tja, — bevor wir uns also auf eine öffentlich beachtete Heldenkarriere begeben können, müssen wir schon mal einiges an persönlicher Vorbereitungsarbeit leisten 😉
In der nächsten Folge werden wir uns mit dem Symbol des “Göttlichen Kindes” auseinandersetzen, dessen Existenz für unseren ureigensten Heldenweg offensichtlich höchst bedeutsam ist.
“Der Geist der Tiefe lehrte mich, dass mein Leben umschlossen ist vom göttlichen Kinde. Aus seiner Hand kam mir alles Unerwartete, alles Lebendige.” C.G. Jung